Auszug aus dem Kapitel: „Fallbeispiele“

Uli

Die Eltern von Uli beantragten von sich aus die Zurückstellung in die Vorklasse u.a. weil er erst im Juni 6 Jahre alt wurde..

Im Kindergarten verhielt er sich im Vergleich zu Kindern seiner Altersstufe ängstlich, schüchtern und zurückhaltend. Meistens spielte er allein oder mit einem Kind in der Bauecke – das allerdings mit großer Ausdauer. An Mal- und Bastelarbeiten war er kaum interessiert. Nur bei Pflichtaktivitäten beteiligte er sich am gemeinsamen Geschehen, benötigte aber für die an ihn gestellten Aufgaben sehr viel mehr Zeit als andere Kinder. Er brauchte oft die besondere Motivation durch die Erzieherin, um sich über einen längeren Zeitraum hinweg mit einem Thema zu beschäftigen. Neben den Eltern waren auch die Erzieherinnen der Meinung, dass Uli noch ein extrem großes Spielbedürfnis hat und man ihm von daher noch ein Jahr die Möglichkeit geben sollte, sich in spielerischer Form auf die Anforderungen eines ersten Schuljahres vorzubereiten.

Zu Beginn des Vorklassenjahres fiel Uli dadurch auf, dass er für alle Aktivitäten sehr viel Zeit benötigte, sei es für die Kontaktaufnahme zu anderen Kindern oder für irgendwelche Mal- und Bastelarbeiten oder während gemeinsamer Spielaktivitäten. Auch während der Freispielphasen erforderte sein langsames Tempo sehr viel Geduld, was bei seinen Mitspielern nicht immer ohne Konflikte möglich war. In intensiven Auseinandersetzungen auf der verbalen Ebene gelang es Uli jedoch nach einiger Zeit, die Bedürfnisse seiner Mitschüler in sein Spiel mit einzubeziehen. Umgekehrt lernten die anderen Kinder durch Uli ihre Bedürfnisse zu formulieren, da sich Uli auf keine andere Form der Auseinandersetzung einließ. Er verfügte über eine große Sprachkompetenz, was auch mit dazu beitrug, dass er sehr bald zu einem beliebten Mitschüler wurde.


Nachdem Uli seinen Platz im sozialen Gefüge der Vorklasse gefunden hatte, er von allen Mitschülern akzeptiert wurde, begann er sich immer mehr für die gemeinsamen Unterrichtsaktivitäten in der Lerngruppe zu interessieren. Es gelang ihm nach und nach, der Vorklassenleiterin aufmerksam und immer länger konzentriert zuzuhören, bzw. sich an gemeinsamen Gesprächen zu beteiligen. Er entwickelte einen immer größeren Ehrgeiz, Mal- und Bastelarbeiten zu den Natur- und Sachbegegnungsthemen mit guten bis sehr guten Ergebnissen zu erledigen, benötigte allerdings noch sehr viel Zeit für die Durchführung. Hierbei ließ er sich von anderen Kindern nicht ablenken, die längst nach Beendigung ihrer Arbeit mit Spielen beschäftigt waren. Während gemeinsamer Unterrichtsaktivitäten zeigte sich bald, dass Uli ein sehr interessiertes und im kognitiven Bereich ein besonders aufnahmefähiges Kind ist. Im April nach Schuljahresbeginn war Uli in der Lage, den Anforderungen eines ersten Schuljahres gerecht zu werden.

So oft wie möglich wurde er von der Sozialpädagogin differenziert gefördert, d. h. an ihn wurden schwierigere Aufgaben gestellt, um seine inzwischen große Motivation nicht zu verlieren.

Uli wurde ohne Probleme in die erste Klasse eingeschult und hatte während der gesamten Grundschulzeit keine Schwierigkeiten, dem Stoff zu folgen. Als einer der besten Schüler wurde er nach der vierten Klasse von der Lehrerin für das Gymnasium vorgeschlagen, in dem er sich inzwischen leistungsmäßig im oberen Drittel seiner Klasse befindet.

Auch das Fallbeispiel „Uli“ verdeutlicht, wie emotionale Entwicklungsrückstände durch Zeit und Raum im geschützten Rahmen der Vorklasse aufgeholt werden können. Emotionale Stabilität und langsame Steigerung der motivationalen und kognitiven Anforderungen ermöglichten Uli am Ende des Schuljahres den Erwartungen einer ersten Klasse gerecht zu werden.

Die positive Einstellung der Eltern gegenüber der Institution Vorklasse spielte hierbei keine unwesentliche Rolle. So ermöglichten sie Uli, ohne Zeit- und Leistungsdruck im emotionalen, kognitiven und motivationalen Bereich optimale Fortschritte zu erzielen. Die sichtbaren Erfolge dokumentieren in überzeugender Weise, dass hierbei keineswegs von einem „verlorenen Jahr“ ausgegangen werden kann, sondern von einem gewonnenen Jahr gesprochen werden muß.